Nach der vielfach kurzsichtigen Schulpolitik vergangener Jahre droht nun „ein dramatischer Kontaktriß zur Überlieferung, aus der wir kommen“. Ein moderner Fächerkanon muß vom Grundsatz der Nachhaltigkeit bestimmt sein. Den alten Sprachen kommt darin eine wichtige Aufgabe zu. – Heike Schmoll erläutert diese Thesen in einem brillanten Vortrag, den sie am 5. April 2002 in Dresden auf Einladung des Deutschen Altphilologenverbandes hielt.
Die defizitären Leistungen deutscher Schüler bei der PISA-Studie lassen sich auf eine Grundschwäche zurückführen: Es fehlt am verstehenden Lernen. Die Gründe dafür sind ebenso komplex wie die Einzelergebnisse der Studie, sie wurzeln jedoch alle in der ausgeprägten Leseschwäche, dem geistigen Analphabetismus. Schüler können Texte wohl buchstabieren, aber sie können sie offensichtlich nicht kritisch bewerten und reflektieren, geschweige denn angelesene Kenntnisse anwenden. Mangelnde Lesekompetenz hat kulturelle und politische Folgen. Sie führt zum einen zu traditionsvergessenen Staatsbürgern, die weder mit antiken noch biblischen Texten etwas anfangen können, weil sie beziehungslos bleiben, zum andern zu unkritischen, manipulierbaren Bürgern.
Dabei bestanden die PISA-Aufgaben doch nicht aus hoher Literatur. Gebrauchstexte wie Beipackzettel und ähnliches wurden den Schülern vorgelegt. Doch auch daran sind sie gescheitert.
Im Grunde sind das, was PISA nun schwarz auf weiß erwiesen hat, Dekadenzerscheinungen. Aber noch mehr: es sind die sichtbaren Folgen einer kulturellen Selbstentwurzelung, die – wie ich meine – unmittelbar mit der Vernachlässigung der alten Sprachen einher geht. Solche Klagen über den Niedergang haben Tradition und sind keine neuzeitliche Erscheinung. Wenn Sie sich davon überzeugen wollen, lesen Sie die brillante Antrittsvor-lesung Philipp Melanchthons in Wittenberg. Unweigerlich sah er eine Schwächung der theologischen Wissenschaft einhergehen mit der Vernachlässigung der alten Sprachen. Anstatt die Grundlagen in Grammatik und Wortlehre zu lernen, stürzten sich die angehenden Theologen auf die Auslegung der Schrift und blieben auf diese Weise Fremde in der Wissenschaft, so lautete seine Warnung. Melanchthon war sich sicher, daß nur die richtige Sprache auch die richtige Erkenntnis sichert. Wer also nicht verantwortlich mit dem Wort umgeht, der verfälscht auch seine Erkenntnis und beschädigt die Wahrheit.
Die PISA-Diskussion hat schon jetzt gezeigt, daß nach wie vor von Inhalten nicht die Rede ist, schon gar nicht von Wahrheit. Fertigkeiten, ökonomische Verwendbarkeit sind gefragt, mit anderen Worten nichts anderes als die Wiederholung der Bildungspolitik, die zum PISA-Ergebnis geführt hat. Latein und Griechisch sind genau die Fächer, die sich über Inhalte erschließen, die das mikroskopisch genaue Lesen üben, aber sie entziehen sich – zum guten Glück – den kurzschlüssigen Nützlichkeitsbegründungen der modernen Bildungspolitik.
Wenn Sie nun darauf hoffen, daß ich Ihnen eine überzeugende Studie zum Sinn des Lateinlernens präsentiere, dann muß ich Sie leider enttäuschen. Solche Studien gibt es nicht. Allerdings gibt es immer wieder Leute, die versuchen, die Nutzlosigkeit des Lateinlernens zu erweisen. Besonders schlagend scheint mir der Beweis immer dann zu sein, wenn Lateinabsolventen beim Lernen moderner Fremdsprachen später behaupten, das Latein habe ihnen nie etwas genutzt. Wer Italienisch und Spanisch lernt und dann meint, dies mit Latein nicht leichter zu schaffen, der kann entweder nicht richtig Latein oder kann sich nicht mehr in den Zustand versetzen, in dem er ohne Lateinkenntnisse wäre. Insofern sind die Beobachtungen renommierter Sprachdidaktiker mit Vorsicht zu genießen, die von einer geringen Transferwirkung des Latein auf Französisch, Italienisch und Spanisch sprechen.
Im vergangenen Jahr hat das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln unter dem Titel „Latein auf dem Prüfstand“ eine Meldung veröffentlicht, die Lateiner eher in resignative Stimmung zu versetzen mag. Die Anzahl der Gymnasiasten, die die lateinische Sprache im schulischen Fächerkanon lernen, ist in den vergangenen Jahrzehnten erheblich gesunken. Das überrascht niemanden der hier anwesenden. 1962 lernten immerhin noch 57 Prozent der Gymnasiasten Latein, im Schuljahr 1999/2000 waren es nur noch rund die Hälfte, also 26 Prozent. Da mag es ein schwacher Trost sein, daß Latein immer noch nach Englisch und Französisch den dritten Platz der an den Gymnasien unterrichteten Sprachen einnimmt.
354 Manager – das ist für Stichprobenuntersuchungen übrigens keine relevante Größe – haben bei einer Befragung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (DIW) in Köln gesagt, sie hielten nicht mehr viel von Caesar und Cicero. Nur jeder zweite würde Latein heutigen Schülern ans Herz legen, jeder dritte Nichtlateiner würde seine Kinder Latein lernen lassen. – Zu den niederschmet-terndsten Befunden der vergangenen Studien – danach hat das DIW nicht gefragt – gehört, daß ausgerechnet die Absolventen humanistischer Gymnasien ihren eigenen Kindern davon abraten würden, Latein zu lernen.
Nicht unerwähnt bleiben soll freilich die in der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie veröffentlichte Studie „Non scholae sed vitae discimus“ zu den Transfereffekten des Lateinunter-richts. Untersucht wurde von einer Forscherin des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsfor-schung, inwiefern von Latein im Vergleich zu Englisch als Anfangssprache im Gymnasium allgemeine Transfereffekte auf die Intelligenzleistung sowie Transfereffekte auf muttersprachliche Fähigkeiten ausgehen. Im Rahmen einer Längsschnittstudie wurden am Ende der achten Klasse Schüler mit Latein als erster Fremdsprache (vier Jahre Unterricht) mit Schülern verglichen, die überhaupt kein Latein gelernt hatten oder nur zwei Jahre in Latein unterrichtet worden waren. Um es kurz zu machen: Während es nicht die geringsten Hinweise auf Unterschiede in der Intelligenzleistung zwischen Schülern mit Latein und Englisch als erster Fremdsprache gab, zeigten sich bei einigen grammatischen Aktivitäten in der Muttersprache leichte Unterschiede, die auf einen Effekt des vierjährigen Lateinlernens zurückgeführt werden können.
„Auswirkungen des Lateinunterrichts auf Stil- und inhaltsgetreues Lesen ließen sich nicht einmal der Tendenz nach zeigen. Hingegen scheint sich der Lateinunterricht in spezifischen Aspekten auf den Gebrauch der deutschen Muttersprache auszuwirken: Komplexe Sätze werden von Schülern mit Latein als erster Fremdsprache effizienter konstruiert als von Schülern, die Latein gar nicht oder als zweite Fremdsprache hatten.“ Insgesamt ließen die vorliegenden Ergebnisse nur geringe Auswirkungen des Lateinunterrichts auf andere kognitive Bereiche vermuten, die jedoch nicht unterschätzt werden sollten, heißt es in der Studie. Doch dieses Ergebnis wird sofort wieder entschärft durch die Feststellung, daß ein direktes Training im buchstabengetreuen Lesen einen stärkeren Leistungsanstieg bewirkt als ein indirektes Training im Latein-untericht.
Um es im Slang der modernen Bildungsbürokratie zu formulieren: Latein-unterricht ist eine gesellschaftliche Institution in Grundlagenqualifikationen, deren Transferierbarkeit auf andere Bereiche plausibel unterstellt werden darf.
Es ist müßig, Ihnen weitere Untersuchungen zum Nutzen des Lateinlernens vorzustellen. Sie werden sie entweder kennen oder sie mit recht ignorieren wollen. Denn die alten Sprachen entziehen sich zum Glück dem platten Utilitarismus des tagespolitischen Bildungsdiskurses, der häufig nur noch nach kurzzeitigen Effekten fragt und um einen Konsens über den Bildungsbegriff erst gar nicht zu ringen wagt. Vor allem die griechische Antike hatte ein Wissensideal, das nicht an der Nützlichkeit orientiert war. Sie wissen, daß das insbesondere für die Philosophie gilt. Aristoteles definiert ja Philosophie geradezu als nutzloses Geschäft und erblickt darin keineswegs einen Nachteil, sondern die Würde der Philosophie.
Ich werde mich hier und heute hüten, Ihnen die sattsam bekannten Vorteile des Lateinlernens aufzulisten, zumal sich solche Aufzählungen bei näherem Hinsehen doch allesamt als ziemlich lächerlich erweisen. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß Sie der Meinung sind, nur Altsprachler seien zu einem sicheren Gebrauch der Fremdwörter imstande. Das können andere natürlich genauso gut, wenn auch vielleicht mit höherem Aufwand.
Den Sinn oder Unsinn des Sprachenlernens darzulegen ist ähnlich absurd, wie den Sinn und Unsinn eines Religionsunterrichts zu erläutern.
In beiden Fällen gilt: Der Zugang zur Welt des Altertums ist nur durch Inhalte, nicht durch Nützlichkeitsbegründungen zu erreichen. Schüler können ihn kaum allein bewältigen, während sie durchaus in der Lage sind, außerhalb der Schule Zugang zu modernen Sprachen zu bekommen. Dennoch gilt es festzuhalten, Altsprachler sind laut Statistiken am ehesten geneigt, all die modernen Sprachen zu lernen, die ihnen in der Schule scheinbar entgangen sind.
Ich möchte meinen Vortrag in zwei Abschnitte gliedern:
- Die Flucht vor dem Denken ins Wissen: Latein und Computereuphorie, achtjähriges Gymnasium und Fremdsprachenbegeisterung;
- Überlieferung als kollektiver Erfahrungsschatz.
1. Die Flucht vor dem Denken ins Wissen: Latein und Computer-euphorie, achtjähriges Gymnasium und Fremdsprachen-begeisterung
In nur wenigen Jahren werden alle Bundesländer ihre Gymnasien zu acht-jährigen machen. Niemand wird es sich auf Dauer leisten können, seine Schüler ein Jahr länger zum Abitur zu führen, zumal der Erkenntnisgewinn sich in Grenzen halten wird. Gegen das achtjährige Gymnasium läßt sich wenig sagen, wenn sich die Umstellung mit einer grundlegenden Überarbeitung der Lehr-pläne für das Gymnasium verbindet und nicht an irgendeiner Stelle in der Mittelstufe einfach Stoff gekürzt wird.
Das achtjährige Gymnasium bietet in zweierlei Hinsicht eine besondere Chance für das Lateinlernen. Zum einen könnte sich die Straffung des Stoffs, die auch von den Schülern mehr verlangt, als Möglichkeit erweisen, das Gymnasium wieder zu der Schulform zu machen, die es eigentlich ist: zu einer studien-vorbereitenden, deren Abschluß nicht umsonst Hochschulreife heißt. Wenn das Abitur nach der 12. Klasse in den Ländern, die bisher Abiturientenquoten von 40 Prozent und mehr aufweisen, zu einer Gesundschrumpfung führte, wäre schon viel gewonnen. Aber es ist kein Zufall, daß diese Länder zu den letzten gehören werden, die ihr Gymnasium umstrukturieren.
Zum andern hat die Schulzeitverkürzung und jegliche Reaktion auf PISA nur dann einen tieferen Sinn, wenn sie mit dem Nachdenken über nachhaltige Bildung, Bildungsstandards und Qualitätsanforderungen verbunden wird. Die internationale Konkurrenzfähigkeit deutscher Gymnasiasten hängt nicht an einem Schul- oder Lebensjahr. Vielmehr gilt es jetzt, die Vermittlung von Spezialwissen im Gymnasium aufzugeben und zurückzukehren zu einer fundamentalen Bildung.
Nachhaltige Bildung heißt eben nicht gleiche Bildung für alle, sondern für jeden die Bildung, die seinen Begabungen und Fähigkeiten entspricht, also auch für jeden die Schulform, die ihm entspricht. Humboldts Idee eines dreistufigen allgemeinen Schulwesens hat nie gleiche Bildung für alle beabsichtigt. Ihm war es immer darum zu tun, daß der gymnasiale Unterricht in allen Fächern allgemeinbildend im besten Sinne und nicht berufsspezifisch sei. Dem Mathematikunterricht sollte es nicht auf die Anwendungsmöglichkeiten, sondern auf die mathematischen Operationen an sich ankommen. Den alten Sprachen wies Humboldt die Rolle zu, den Schüler zu befähigen, „sich in jede gegebene Sprache, nach seiner allgemeinen Kenntnis vom Sprachbau überhaupt, leicht und schnell hineinzustudieren“. Das klingt formaler als es eigentlich gemeint war. Denn die Anforderungen in den alten Sprachen waren im humanistischen Gymnasium des 19. Jahrhunderts überaus hoch. Die Lektürelisten nannten nur antike Autoren, bis hin zu den schwierigsten, wie den Tragikern im Griechischen und Tacitus im Lateinischen. Der Primaner mußte in der Lage sein, Cicero und sogar Horaz ohne Vorbereitung zu lesen, also zu verstehen und zu übersetzen. Im Griechischen war dieselbe Leistung für die attischen Prosaiker und Homer zu erbringen. Niemand wird diesen Zustand im Ernst wieder herbeisehnen, zumal viel Humanismus-Begeisterung gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Verdacht stand, dem „erstorbenen Antike-Enthusiasmus“ zu dienen, also ein zweites Weimar herbeizureden.
Als die Humanisten im Jahr 1900 den Lehrplan des überkommenen Gymnasiums dadurch vor weiteren Einbußen im Latein- und Griechisch-unterricht zu bewahren versuchten, daß sie dem Realgymnasium und der Oberrealschule die volle Gleichberechtigung zugestanden, haben sie dem Gymnasium einen Bärendienst erwiesen. Sie haben die humanistische Bildung an einen Nebenschauplatz verwiesen. Kurzfristig stiegen die Schülerzahlen in den alten Sprachen an, aber das war eine Scheinblüte.
Am entschiedensten wurde die humanistische Bildungstradition hierzulande bei der Einführung der gymnasialen Oberstufe verabschiedet. Das Griechischlernen hat sich damals von selbst erledigt, weil kaum Leistungskurse zustande kamen und das Lateinlernen reduzierte sich zumeist auf das für das Latinum Notwendige – denn die Differenzierung in ein kleines und großes Latinum hatten die Kultusminister längst im Handstreich abgeschafft. Die humanistischen Bildungsideale sind im Grunde schon im 19. Jahrhundert zerbrochen, als der universale Blick auf Welt und Wissenschaft unmöglich wurde.
Um so mehr bietet die Rückkehr zu Kerncurricula und grundlegender Allgemeinbildung die Möglichkeit, Latein und Griechisch sicher nicht für alle, aber für einige fest zu etablieren.
Nachhaltige Bildung ist heute gefragter denn je – im Sinne Humboldts allerdings sicherlich nicht eine Stärkung der berufsvorbereitenden Fächer im Gymnasium. Gerade das Gymnasium muß freigehalten werden von den modischen Anforderungen des Tages. Arbeitslehre etc. haben dort nichts zu suchen, übrigens auch nicht die Verwässerung des Geschichtsunterrichts zu Sozialkunde. Geschichte muß ein eigenständiges Fach bleiben. Sozialkunde und Volkswirtschaftslehre können hinzukommen, aber sicher nicht als Ersatz für den Geschichtsunterricht.
Mit gymnasialer Bildung ist ein unerläßliches Kernwissen gemeint, aber vor allem die Fähigkeit, selbständig mit Wissen umzugehen, es zu strukturieren und – um das wichtigste zuletzt zu nennen: Sprachfähigkeit. Sprachfähigkeit meint in erster Linie lesen können. Die biblische Frage „Verstehst du auch, was du da liesest?“ (Apg 8,30) gewinnt an Aktualität. Querlesen, Überfliegen, sich vor schwierigen, kaum zugänglichen Texten zu drücken, ist gang und gäbe. Latein und Griechisch üben im mikroskopischen Lesen, im Konstruieren der auf den ersten Blick unüberschaubaren Satzgebilde und zwingen dazu, sich intensiv auf die Suche nach einer differenzierten Aussage zu machen. Keine moderne Sprache kann dafür Ersatz bieten, auch schwierige muttersprachliche Texte nicht.
Zumindest das Lateinlernen böte die Grundlage für die Schlüsselfähigkeit des lebenslangen Lernens schlechthin, für die Sprachfähigkeit. Wer Latein und Griechisch gelernt hat, ist offensichtlich eher bereit, später mehrere moderne Sprachen zu lernen, weil sie ihm allesamt leichter erscheinen und er Routine im Sprachenlernen gewonnen hat. Im Unterschied zu den alten Sprachen läßt sich der Zugang zu den neuen Sprachen auch außerhalb der Schule finden. Deshalb plädiere ich dafür, Latein zumindest in den sprachlichen Gymnasien gleichzeitig mit einer modernen Sprache als Eingangssprache lernen zu lassen oder die zweite Sprache auf die Quinta vorzuziehen.
Ich meine, in der Grundschule würde es genügen, solide Grundlagen des Deutschen zu legen. Das Fremdsprachenlernen in der Grundschule zählt zu den Adiaphora und wird dann nachteilig, wenn die Stunden für die Fremdsprache vom Deutschunterricht abgehen. Außerdem gibt es noch in keinem Bundesland ein wirklich überzeugendes Konzept für die Fortbildung der auf Fremd-sprachenunterricht überhaupt nicht vorbereiteten Primarschullehrer. Selbst bei viel gutem Willen und Sprachbegabung ist eine Hürde fast unüberwindlich: Das frühe Fremdsprachenlernen steht und fällt mit einer eigenen Didaktik des Hörverstehens. Zum einen ist diese Didaktik bis heute nicht entwickelt, zum andern sind die jetzt unterrichtenden Lehrer mit einem auf das Schriftliche fixierten Unterricht auch in den modernen Sprachen groß geworden. Daran hat die Begeisterung für das Sprachlabor in den siebziger Jahren wenig geändert. Gerade einen Altsprachler muß es ziemlich grausen bei der Vorstellung, daß etwa nach dem baden-württembergischen Modell des frühen Sprachenerwerbs – von den sogenannten spielerischen Begegnungsmodellen will ich gar nicht erst reden – zwei Jahre nur dem Hören nach gesprochen werden soll, während dann erst an Niederschreiben gedacht ist. Vor allem für sprachbegabte Kinder scheint mir dies der falsche Weg zu sein. Erst in einigen Jahren wird man sehen, wie sich verschiedene Fremdsprachendidaktiken auf die Lateinkenntnisse aus-wirken.
Gleichwohl gäbe es nichts Schädlicheres für Latein und Griechisch als eine Frontstellung gegen die modernen Fremdsprachen. Wenn schon, sollten Altphilologen immer auf die Synergieeffekte der alten und modernen Sprachen und die völlig unterschiedlichen Zugangswege setzen. Das europäische Gymnasium in Baden-Württemberg scheint mir vielversprechend. Allerdings müßte sich dafür auch die Fremdsprachendidaktik ändern. Solange Schüler nur aveugle (blind) im Französischunterricht lernen, nicht aber la cécité (die Blindheit), werden sie außerstande sein, den Zusammenhang zum lateinischen Ursprung und zum italienischen cieco herzustellen. Niemand soll behaupten, Schüler mit zwei alten und zwei modernen Fremdsprachen seien überfordert. PISA hat doch erwiesen, daß deutsche Schüler unterfordert sind.
Im Saarland, das bereits im ganzen Land achtjährige Gymnasien eingeführt hat, zeigt sich schon jetzt, was die Schulzeitverkürzung für das Lateinlernen bedeutet. Auch wenn der Kultusminister stolz darauf hinweist, daß die Lateinschüler nicht weniger geworden seien, ist das nur die halbe Wahrheit: Es handelt sich nämlich nur um Latein als dritte Sprache. Das grundständige Latein ist im Zuge der Schulzeitverkürzung nahezu von der Bildfläche verschwunden.
Baden-Württemberg hat das achtjährige Gymnasium jahrelang erprobt und dabei die Erfahrung gewonnen, daß die Anmeldezahlen an den humanistischen Gymnasien nur dadurch zu steigern sind, wenn gleichzeitig eine moderne Sprache angeboten wird – und zwar möglichst die in der Grundschule begonnne.
Es wäre fatal, wenn Latein nur noch als dritte Fremdsprache gewählt würde, denn Schüler kämen dabei allenfalls in der Besenkammer der klassischen Dichtung an, die Prunksäle blieben ihnen vorenthalten. Auf diese Weise würden unnötige Vorurteile über den Lateinunter-richt bestätigt. Hinter dem Wahlverhalten vieler Schüler stecken ja auch die Enttäuschungen der Eltern oder Bekannten über den Lateinunterricht. Wer im Lateinunterricht über die Militärstrategie des Bellum Gallicum nicht hinausgekommen ist, muß doch ein bemitleidenswerter Mensch sein. Ich habe beim letzten Deutschen Alt-philologenkongreß mit Freude vernommen, daß inzwischen auch Plinius und andere Autoren gelesen werden, bin ich doch selbst einigermaßen Caesar- und Cicero geschädigt, was meiner Begeisterung für das Latein allerdings keinen Abbruch getan hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie werden sich vielleicht wundern, daß ich an dieser Stelle noch ein paar Worte zur Computereuphorie in den Schulen sage, die nur auf den ersten Blick nichts mit dem Latein- und Griechischlernen zu tun hat. Denn Forscher bestätigen inzwischen, was zunächst nur vermutet wurde: Mit dem zunehmenden Gebrauch von Internet und Computer droht eine Art kollektiver kultureller Alzheimer: Die Infor- mationsflut führt zu einem rasanten Erinnerungsverlust.
Plato hat schon vor fast 2400 Jahren davor gewarnt, den vermehrten Einsatz von Hilfsmitteln mit größerer Einsicht gleichzusetzen. Im Dialog Phaidros formuliert er seine Befürchtung so: „Denn im Vertrauen auf die Schrift werden sie ihre Erinnerungen mithilfe geborgter Formen von außen heranholen, nicht von innen aus sich selbst herausziehen; … so daß sie sich vielwissend dünken werden, obwohl sie größtenteils unwissend sind, und schwierig im Umgang sein, weil sie scheinweise geworden sind statt weise„.
Niemand wird im Ernst etwas dagegen haben, den Umgang und sinnvollen Gebrauch der elektronischen Informationssysteme auch in der Schule einzuüben. Aber der Umgang mit dem Computer kann kein Bildungsziel sein, sondern allenfalls ein Bildungsmittel. Vor einer völligen Computerisierung von Schule und Universität hat jedoch der amerikanische Computerfachmann und Internetexperte Clifford Stoll zu Recht gewarnt. Zwar ist sein Buch so geschrieben wie das Sujet seiner Beschreibung beschaffen zu sein scheint. Indessen können seine Berichte aus den Vereinigten Staaten nur warnen. Dort sind Schulbibliotheken und Musikräume zugunsten der Computerräume verschwunden. Ein Virus an einem einzigen Schülerlaptop kann den Unterricht eine ganze Stunde lang blockieren.
Aber es geht um wesentlich mehr. Amerikanische Forscher aus Ohio haben nachgewiesen, daß der gedruckte Text nicht nur leichter zu verstehen, sondern vor allem einprägsamer ist. Denn die Arbeit am Bildschirm entspricht nicht den ganzheitlichen Wahrnehmungsbedürfnissen des Auges. Eine totale Computerisierung, die es hierzulande hoffentlich nicht geben wird, unterfordert auf Dauer die Psychomotorik. Blättern, Unterstreichen, Kommentieren und Exzerpieren sind offenbar wichtiger für Verstehen und Lernerfolg als vermutet.
Das Computerwissen indessen verspricht Gewißheit und Konsens, unterstützt aber die Neigung, vor dem Denken ins Wissen zu fliehen. Diese Tendenz ist bei Erwachsenen äußerst ausgeprägt, die seit langem mehr Sachbücher als literarische Werke kaufen und aktiv oder passiv an den unzähligen Quiz-Sendungen im Fernsehen teilnehmen. Sie zeigt sich aber auch bei Schülern, die zwar über Wissen verfügen, aber weniger denn je zu Transferleistungen, Problemlösungen und eigenständigem Denken in der Lage sind.
Wer nicht wirklich lesen kann, also nicht in der Lage ist, sich Texte zu eigen zu machen und sie mit Wissen und Erfahrung in Verbindung zu setzen, ist im Grunde nicht ausbildungs- und weiterbildungsfähig. Lesen ist und bleibt die wichtigste Voraussetzung für bildungsabhängige Karrieren.
15 Prozent der Lehrstellenanwärter sind wegen nicht geglückter Alphabetisierung nicht vermittelbar. Ausbilder, Lehrbetriebe und Hochschulen klagen über die sinkende Sprach- und Lesefähigkeit deutscher Schulabgänger. In der Tat gibt es kein Land, das der Muttersprache so wenig Schulstunden zubilligt wie Deutschland.
Der Deutschunterricht könnte doch auch den Zugang zu schwierigen Texten eröffnen, wird mancher einwenden. Grundsätzlich ist das sicher richtig. Aber auch der Deutschunterricht ist doch längst zum Opfer der ermäßigten Anforderungen geworden. In den Grundschulen ist der geforderte Mindestwortschatz für den Deutschunterricht gesenkt worden und wer hierzulande einen festen Literaturkanon fordert, über den es bei näherem Hinsehen gar keinen großen Dissens gibt, wird alsbald das Hohngelächter aus verschiedenen Ecken hören. Viele Deutschlehrer sind doch längst dazu übergegangen, fast nur noch Gebrauchstexte oder moderne Literatur zu lesen. Sie sind den Klagen der Schüler über Leseanstrengung und wenig vertraute Sprache gewichen. Denn das Lesen schwieriger Texte fordert Ausdauer und Konzentrationsvermögen.
Insofern könnten Latein und Griechisch eine Schlüsselrolle im Bildungsprozeß spielen. Es ist ja kein Zufall, daß die Absolventen humanistischer Gymnasien nur selten ein altphilologisches Studium aufnehmen, sondern begeistert sind, wie die Welt der Antike ihnen den Eintritt in die Moderne eröffnet hat und sich ihre Bildungsbiographie auch in ein späteres Manager-dasein einfügt.
„Wir alle sind, was wir gelesen haben„, hat Golo Mann seinen Essayband zur Literatur überschrieben. Indem sich Kinder Geschichten hingeben, erschließen sich neue Lebenswelten und lehren sie die geistige Selbständigkeit. Früh tauchen sie ein in ein System von Symbolen und Zeichen und schulen Kreativität und Phantasie.
Die Lernphase, in der Lesekompetenz erworben wird, ist sehr kurz. Die ersten vier bis acht Lebensjahre sind für die Sprachkompetenz am wichtigsten, die Leselust muß sich spätestens vom zwölften Lebensjahr bis zur Pubertät entwickelt haben. In der frühen Kindheit entwickelt sich das Gehirn in einem Tempo, das später nie wieder erreicht wird.
Alle entscheidenden Fähigkeiten, die bestimmend dafür sind, wie ein Kind in der Schule lernt und im späteren Leben Beziehungen aufbaut, hängen von der Fürsorge ab, die ihm im Kleinkindalter von Eltern und Betreuern zuteil wird.
Emotionale Intelligenz, Wissensdurst, Zielgerichtetheit, Selbst-beherrschung sowie Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit werden im frühesten Kindesalter erlernt. Das hat die Unicef-Untersuchung „Zur Situation der Kinder in der Welt“ vom vergangenen Jahr aufgrund hirnphysiologischer Untersuchungen bekräftigt.
Um so alarmierender sind die Ergebnisse bei der Einschulung untersuchter Kinder. 20 bis 22 Prozent zeigen klinisch relevante Sprachentwicklungs-störungen. Die Hälfte der Kinder müssen logopädisch oder sprachtherapeutisch behandelt werden. Genauso hoch ist der Anteil der Kinder, die motorische Entwicklungsstörungen aufweisen.
Wenn schon nach Synergieeffekten der alten Sprachen gesucht wird, ergibt sich aus diesen Erkenntnissen ein Plädoyer für das grundständige Latein. Und das grundständige Latein sollte nicht erst nach einer Orientierungsstufe im siebten Schuljahr beginnen, sondern im fünften Schuljahr. Latein sollte Eingangssprache sein, welche moderne Sprache auch immer damit kombiniert wird. Denn Latein lehrt den reflektierenden Spracherwerb, das Übersetzen ins Deutsche und das mikroskopisch genaue Lesen.
Fatal ist übrigens, daß die Rechtschreibreform das Ihre dazu beiträgt, den kleinen Verlagen das Wasser abzugraben. Sie verlegen lateinische und griechische Texte in einer Aufmachung, die sich noch vor zwanzig Jahren kein Schüler hätte träumen lassen, sind aber besonders gefährdet durch ständige Nachbesserungen an der Reform, die unterhalb der kultusministeriellen Ebene, durch die Wörterbücher, lanciert werden.
Aber Latein und PC sind durchaus kompatibel: kaum eine andere Geisteswissenschaft nutzt die Möglichkeiten des modernen Internets so intensiv und konsequent wie die alten Sprachen – und immerhin können Lateiner dann auch noch etymologisch erklären, warum PC und alte Sprachen kompatibel sind – wegen pati, Sie wissen schon…
2. Überlieferung als kollektiver Erfahrungsschatz
Wenn schon von nachhaltiger Bildung die Rede sein soll, dann muß von Inhalten die Rede sein. Nachhaltigkeit entzieht sich sowohl dem Nützlichkeitsdenken wie der aktuellen Verwertbarkeit, sie entzieht sich auch dem Machbarkeitswahn, der kein modernes Thema ist.
Der Berliner Philosoph Michael Theunissen, der im vergangenen Jahr ein nahezu tausendseitiges Buch über Pindar veröffentlicht hat, sagte vor kurzem in einem Gespräch, solange die Menschen sich nicht vom Machbarkeitswahn zu befreien vermögen oder zumindest zu der Einsicht gelangten, daß Machbarkeit nicht alles bedeuten kann, bestehe kaum noch einmal eine Chance, in ein authentisches Verhältnis zur Antike zu kommen. Aber, gibt Theunissen zu bedenken, ohne ein authentisches Verhältnis zur Antike kommen wir auch nicht zu einem authentischen Verhältnis zu uns selbst.
Aber der Machbarkeitswahn ist nicht erst durch die moderne bioethische Debatte in die Welt gekommen. In einer seiner späten Oden, in der 11. Nemeischen, sieht Pindar unser Hauptelend darin, daß wir diesem Machbarkeitswahn verfallen sind.
Ich zitiere die letzten Verse der 11. Nemeischen Ode in der Übersetzung Theunissens: „So leitet auch die sterblichen Geschlechter das Schicksal. Das von Zeus Kommende fällt Menschen nicht als sicheres Zeichen zu. Aber trotzdem kommen wir mit größenwahnsinnigen Ambitionen daher, vielerlei Taten im Sinn. Denn gefesselt an scheuloses Streben die Knie: wir machen keinen Gebrauch von den Quellen der Voraussicht. Im Jagen nach Gewinn bedürfen wir des Maßes – aus nicht zu befriedigenden Begierden entstehen nur heftigere Anfälle von Raserei„.
Eindrucksvoll legt Theunissen dar, wie der Kern der Pindarschen Dichtung offenbar erst freigelegt werden muß, weil seine Hymnen die Überlieferungsgeschichte geprägt haben und ihn deshalb in das Zwielicht einer herrschafts-legitimierenden Ideologie geraten ließen. Theunissen verfolgt mit seiner Pindar-Arbeit vor allem philosophische Interessen. Er will etwa darlegen, daß die Vorsokratiker eine verhältnismäßig unbedeutende Rolle spielten, die Griechen der ersten Jahrhunderte aber ihre Weisheit in der Dichtung suchten. Denn Philosophie ist ja ein später, erst nach dem Ende der lyrischen Epoche aufgekommener Begriff, im Grunde ein Rückzugsbegriff. Durch das f…lo- im Sinne von Streben nach Weisheit und Wahrheit, die wir nicht besitzen, bringt er eine Bescheidenheit zum Ausdruck. Philosophie in diesem Sinne hat sich erst mit Sokrates, also der sokratischen Wendung abendländischen Denkens, etabliert. Theunissen erinnert daran, weil leicht vergessen wird, daß sof…h, also Weisheit, für die frühen Griechen in der Dichtung zu finden war.
All das eröffnet neue Perspektiven, vor allem wenn dann noch flankierend im Deutschunterricht die Antiken-Rezeption der Weimarer Klassik behandelt würde. Der altsprachliche Unterricht bietet sich geradezu an für fächerüber-greifende Projekte, die Begeisterung der Lehrer und ihrer Schüler voraus- gesetzt.
Es geht nicht darum, den historischen Pindar als museale frühgriechische Dichterfigur wieder auferstehen zu lassen, sondern darum, mit der Tradition so umzugehen, daß heutige Rezipienten ihren Erfahrungshorizont nicht verleugnen. Sie müssen sich die Gestalten der Vergangenheit gewissermaßen aus ihrer Sicht neu aneignen.
Das bedeutet freilich auch, sich auf zunächst fremde Texte wirklich einzu-lassen, auch wenn sie ihre Beziehung zu den eigenen Erfahrungen erst später offenbaren. Es wäre geradezu fatal, Überlieferung nur unter dem Gesichtspunkt zur Kenntnis zu nehmen, was mir jetzt und hier wichtig zu sein scheint.
Allerdings muß sich der altsprachliche Unterricht sehr wohl darum bemühen, Texte auszuwählen, die den Schülern die Möglichkeit zumindest eröffnen, sie mit ihrer eigenen Lebenswelt in Beziehung zu setzen.
Gleichzeitig müssen Sie als altsprachliche Lehrer glaubwürdig den Eindruck vermitteln, daß Ihnen persönlich an diesen Texten liegt, daß Sie mit Ihnen leben und daß Sie die Quellenlektüre auch nach dreißig Jahren Schuldienst noch nicht aufgegeben haben. Die Schüler müssen das Gefühl haben, Sie sind so begeistert von griechischen Texten, daß Sie abends statt Donna Leon Thukydides oder Pindar im Original lesen. Erst dann werden sie glauben, daß es mit dem sperrigen Textcorpus der Überlieferung wirklich etwas auf sich hat, daß es sich lohnt, die Hürden des Verstehens zu überwinden, um hinterher einzutauchen in eine eigen Welt.
Überlieferung ist genaugenommen der kollektive Erfahrungsschatz, der sich von Generation zu Generation angesammelt hat. Es ist der kulturerzeugende und kulturprägende Traditionsstrom eines epochenübergreifenden kulturellen Lernens, Empfangens, Weitergebens, Aufnehmens. Die europäische Welt fußt im wesentlichen auf zwei Überlieferungssträngen, die sich zunächst getrennt ausformten und entfalteten, sich sodann verbanden und höchst spannungsvoll vermischten, sich verflochten und entflochten und inzwischen fast unsichtbar geworden sind, von manchen auch ohne Not verabschiedet wurden. Es ist zum einen die griechisch-römische Antike, zum andern die hebräisch-griechische Welt der Bibel. Es wäre hybrid und wirklichkeitsfremd, Latein, Griechisch und Hebräisch wieder als sprachlichen Pflichtkanon zu fordern. Im Zweifelsfall würde ich mich auch für Griechisch, die differenzierte und gegenüber dem Hebräischen erheblich schwerere Sprache entscheiden. Es muß zumindest eine stattliche Zahl von Gymnasiasten geben, die beide alten Sprachen kennen- und liebengelernt haben.
An die beiden europäischen Traditionen zu erinnern, hat inzwischen geradezu altväterliche Züge angenommen. Es hat etwas von der bildungsbürgerlichen Hoffnungslosigkeit eines Plädoyers für das altsprachliche Gymnasium, das sich wie eine einsame Sozialstation eines pflegebedürftig gewordenen Geistes im Schatten der praxis- und berufsfeldbezogenen Ausbildungsofferten ausnimmt.
Es droht in der Tat ein dramatischer Kontaktriß zur Überlieferung, aus der wir kommen, eine kollektive Amnesie gegenüber der eigenen Herkunft. In einer ständig auf Modernisierung und Innovation, vor allem aber auf Nützlichkeit und Effizienz versessenen Welt „wird Tradition ein knappes Gut“. Die Folgen dieses Vorgangs sind nicht so harmlos, wie manche gerne hätten. Schon die individuelle Biographie wird durch Erinnerungsverluste erheblich in Mitleidenschaft gezogen. Ein Mensch mit Gedächtnislücken und beschädigter Erinnerungsfähigkeit büßt wertvolle Orientierungsmöglichkeiten ein.
Aber was ist erst von einer Kultur zu halten, die im Begriff ist, ihr kulturelles Gedächtnis zu verlieren? Es ist nicht übertrieben, von einer gewollten Selbstentwurzelung zu sprechen.
Karl Jaspers hat die Tragweite dieses Vorgangs schon vor siebzig Jahren erkannt. Er hat den Traditionsabbruch als Ausdruck einer Bildungsfeindlichkeit gesehen, „die den Gehalt geistigen Tuns auf das technische Können und das Aussprechen des Minimums des nackten Daseins reduziert„. Aber ohne geschichtliche Erinnerung „welche als solche nicht ein bloßes Wissen von Vergangenem, sondern gegen-wärtige Lebensmacht ist…, würde der Mensch Barbar„. Jaspers forderte lebendige Aneignung des Geschichtlichen, den Dialog mit der eigenen Überlieferung. „Man weiß nie zu viel über Sprachen und womöglich einige neuere. Man weiß nie zu viele Sprachen. Und so viel oder wenig man gewußt habe, darf man die Übung nie völlig einschlafen lassen. Gute Übersetzungen in Ehren – aber den originalen Ausdruck kann keine ersetzen und die Ursprache ist in Wort und Wendung schon selber ein historisches Zeugnis höchsten Ranges“ schreibt Jakob Burckhardt in seinem Studium der Geschichte.
Es geht nicht um den Eintritt in Museen und touristische Antiquitäten, auch nicht um den Eintritt in die zu jener Zeit noch unvorstellbaren Datenbänke der Historiker, sondern um den Eintritt „in einen geistigen Raum, in dem ich aus eigenem Ursprung ich selbst werde„. (Jaspers, Die geistige Situation der Zeit)
In der Begegnung mit der Überlieferung, in der aneignenden Zwiesprache mit ihren Texten und Symbolen, reifen selbsterworbene und selbstgewonnene Einsicht und Erkenntnis, gewinnt der Mensch die Möglichkeit, aus eigenem Ursprung er selbst zu sein. Er gewinnt auch die Fähigkeiten, die Wirtschaftsvertreter mit Vorliebe als Schlüsselqualifikationen bezeichnen, was auch immer das im einzelnen sein mag. Es geht um Konzentrationsfähigkeit, Belastbarkeit, Genauigkeit, Offenheit für Fremdes und Neues, Kreativität, Leistungswille und vor allem eine begründete Urteilskraft, die sich mit keinem Ethikunterricht der Welt entwickeln läßt.
Das ist im Kern das Ziel des eigentlichen Bildungsvorgangs, zu einer eigenständigen Person gebildet werden. Nur dann gelingt es auch, sich den Konformisierungsmechanismen der Massengesellschaft zu entziehen, eine eigene Meinung zu bilden und vereinnahmenden Fremdbestimmungen gegenüber kritische Distanz zu bewahren. Nicht von ungefähr haben die Erziehungswissenschaften den Bildungsbegriff schon in den sechziger Jahren verabschiedet.
Das Gespräch mit der Überlieferung, der des Denkens wie der des Glaubens, ist die Grundlage jeden Bildungsvorgangs, ganz gleich wie hinterher die persönliche Haltung zu dieser Überlieferung begründet wird. Aber gekannt werden muß sie erst einmal. Denn mit der Zerstörung der Erinnerung würde der Mensch sich selbst vernichten (Jaspers). Jaspers hält auch einen Trost für diejenigen bereit, die angesichts der Fülle der Überlieferung nicht wissen, wo sie anfangen sollen. „Wahre Bildung will lieber in einem Minimum von Aneignung ursprünglich selbst sein, als in der großartigsten Welt sich in Verwechslungen verlieren„. Angesichts einer neuen Vorherrschaft der Lebenswissenschaften und einem Zurücktreten der Geisteswissenschaften auch an den klassischen Universitäten gewinnt dies an Aktualität.
In seiner Monographie „Überlieferung“ hat der Münsteraner Philosoph Josef Pieper die beiden Gattungen menschlicher Wissenschaft so erläutert. Die erste Wissenschaftsform, die Physik, beruht auf Erfahrung und dem Vernunftargument – der Prototyp dafür wäre die Physik, die zweite Gattung beruht auf Überlieferung und Autorität. Der Prototyp dafür ist die Theologie. Die Theologie hat in den letzten Jahren im Konzert der Wissenschaften einen ähnlichen Bedeutungs-verlust hinnehmen müssen wie die Altphilologie und die Philosophie, sie ist dennoch in einer ungleich besseren Lage. Sie hat immer noch die Kirchen als Lobby hinter sich. Allerdings halten die bekanntlich immer weniger von ihrer eigenen Theologie.
Pieper beschreibt die Folgen des Traditionsabbruchs so: „Wahrscheinlich gehört es zu den unheilvollsten Dingen, die auf diesem Planeten geschehen, daß eine säkularistische Weltzivilisation, die im Begriff zu sein scheint, den Boden ihrer großen Überlieferung endgültig zu verlassen und zu verraten, nun alle übrigen Kulturen zur Preisgabe ihrer eigenen Tradita und also zur Selbst-entwurzelung nötigt, mit der Konsequenz, daß selbst die heroischesten Bemühungen um eine tiefergreifende ‚Verständigung‘ fast notwendig vergeblich bleiben„.
Wer allerdings versucht, in den gängigen philosophischen Wörterbüchern zu den Begriffen „Überlieferung“ und „Tradition“ Auskunft zu erhalten, wird enttäuscht. Die Stichworte kommen in den Wörterbüchern nicht vor. In den theologischen Nachschlagewerken werden sie in ärgerlicher Weise theologisch vereinnahmt, als gebe es nicht einen umfassenderen präzisierbaren Begriff von Überlieferung und Tradition. Ganz gleich, ob ein Lied, eine Fertigkeit, ein Brauch, eine Verhaltensnorm, eine Erkenntnis, eine Lehre oder ein Text überliefert werden, eines ist allen Tradita gemeinsam: Es handelt sich um etwas, das die Qualität hat, von einem Menschen zum andern empfangen und weitergegeben werden zu können. Deshalb kommt dem altsprachlichen Lehrer auch eine Schlüsselfunktion zu. Von dem Überbringer des Traditum hängt dessen Wirkungskraft in nicht unwesentlichem Maße ab. Aber das Überlieferte muß auch ganz unabhängig von seinem Überbringer sprechen können, kraft seines Inhalts. Während keiner auf die Idee käme, einen Mathematiker dazu zu zwingen, den Sinn oder Unsinn des Mathematikunterrichts zu begründen, befinden sich Latein- und Griechischlehrer in ständigem Rechtfertigungsdruck. Lassen Sie sich auf die Frage „was bringt’s“ nicht ein, sie führt zu nichts. Die Würde des Latein- und Griechischlernens liegt darin, daß sie sich dem Utilitarismus entzieht.
Die Klage über den Verlust der Tradition hat ihrerseits Tradition, aber auch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. In einer scharfsinnigen Diagnose hat Friedrich Nietzsche, dessen Schulschriften zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind, 1890 schon gemeint: „Was heute am tiefsten angegriffen ist, das ist der Instinkt und der Wille der Tradition; alle Institutionen, die diesem Instinkt ihre Herkunft verdanken, gehen dem modernen Geist wider den Geschmack„. Sie können sicher sein, zu diesen Institutionen gehört auch das humanistische Gymnasium. Und gerade deshalb gilt es, wider alle Zeitströmungen, daran festzuhalten und es nicht kurzlebigen Nützlichkeitserwägungen zu opfern. Sie, als Altphilologen, sind neudeutsch ausgedrückt, die Funktionseliten der humanistischen Gymnasien. Von Ihrer Glaubwürdigkeit hängt auch die Zukunft der alten Sprachen ab. Aber seien Sie versichert, Sie tun vermutlich wesentlich mehr für nachhaltige Bildung als all die Politiker, die inzwischen gerne Sonntagsreden zu dem populär gewordenen Thema führen.
Auf den Philosophen Gerhard Krüger geht die resignative Feststellung zurück: „Wir leben nur noch von unserer Inkonsequenz, davon, daß wir nicht wirklich alle Tradition zum Schweigen gebracht haben … . Wir gehen der radikalen Unmöglichkeit der sinnvollen und gemeinsamen Existenz entgegen, obwohl sich dieses Ende niemand vorstellen kann“ (aus: „Geschichte und Tradition“). Wer nichts von der Tradition weiß, hat es leicht, sich ihr zu verweigern. Deshalb gehören Latein und Griechisch auch im modernen, achtjährigen Gymnasium zu den unverzichtbaren Bestandteilen des Fächerkanons. Die Widerstände gegen diese Einsicht werden eher wachsen als nachlassen. Die Angst der Eltern vor dem Latein wird nicht geringer, zumal die Anzahl derer steigt, die selbst keinen Zugang zu den alten Sprachen bekommen haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, allem Traditionsabbruch und pessimistischen Studien zum Trotz, liegt im neuen Nachdenken über nachhaltige Bildung und den Bildungsbegriff als solchen eine besondere Chance für die alten Sprachen. Nachhaltige Bildung ist kein technokratischer Modernitätsbegriff, sondern nur über Bildungsinhalte zu füllen. Da ich den Fehler gemacht habe, mein schönstes Zitat schon in einem Leitartikel zu veröffentlichen, mußte ich damit rechnen, daß ein anderer Festredner es vorweg nimmt. Da der Kollege Sommer Jakob Burckhardt zitiert hat – „Wir wollen durch Erfahrung nicht so wohl klug (für ein andermal), als vielmehr weise (für immer) werden“ – will ich Sie, angesteckt vom genius loci und der Nähe Weimars, an Schillers Xenien erinnern:
„Tote Sprachen nennt ihr die Sprache des Flaccus und Pindar
und von beiden her kommt, was in der unsrigen lebt“.